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Kurzer Text über das Klonen 2003

Ein in kurzer Text über das Klonen

Wolfgang Wodarg, MdB. 2003*

 

In keinem anderen Bereich der modernen Medizin zeigt sich die Relativität unseres Wissens so deutlich wie hinsichtlich neuer biotechnologischer Optionen. Was man heute sicher zu wissen meint, ist bereits morgen durch neue Erkenntnisse überholt. Was heute noch unmöglich scheint, rückt morgen schon in die Sphäre des Machbaren.

Weil die Forschung an der genetischen Substanz des Lebens den Menschen mittelbar oder unmittelbar in seinem Lebensrecht und seiner Würde tangiert, müssen Regeln und Gesetze verabschiedet werden, die den Wissenschaftlern vorgeben, welche Experimente sie durchführen dürfen und welche nicht. In den USA und Europa wird die Diskussion über Chancen und Risiken der Gentechnologie seit rund 20 Jahren intensiv geführt. In vielen anderen Ländern zum Beispiel Asiens sind die Bedenklichkeiten weniger stark ausgeprägt als die wirtschaftlichen Hoffnungen, die sich mit der neuen Technologie verbinden.

Unter den vielen Anwendungsfeldern, die am Genom ansetzen, ist die Technik des Klonens das meistdiskutierte Thema. Es eignet sich hervorragend als Beispiel für die ethische Problemlage im Umgang mit der Gentechnik in ihrer nationalen und internationalen Dimension. Das große Medieninteresse an diesem Thema hat aber nicht nur sachlich fundierte Gründe. Es erklärt sich auch daraus, dass mit der Klontechnik ein jahrhundertealter Menschheitstraum plötzlich wahr geworden ist – freilich ganz anders als erwartet und behaftet mit niemals zuvor bedachten Problemen. Diese mystisch religiösen Aspekte dürfen nicht übersehen werden, denn sie beschäftigen unsere Fantasie. (1)

 

Seitdem das aus einer Euterzelle geklonte Schaf Dolly 1997 das Licht der Welt erblickte, scheint technisch bis hin zur Wiederauferstehung längst ausgestorbener Spezies nichts mehr undenkbar. In der Tierzucht eröffnet sich konkret die Option der gezielten Vervielfältigung von Hochleistungstieren. Dem stehen gegenwärtig noch wirtschaftliche Gründe entgegen, denn das Klonverfahren ist aufgrund der geringen Trefferquote aufwendig und teuer. Im Bereich der Reproduktionsmedizin spielt die säkularisierte Hoffnung auf leibliche Auferstehung eine Rolle, etwa wenn ein geliebter Mensch plötzlich verstorben ist. Hier wird besonders greifbar, dass der Mensch immer weniger geneigt ist, Schicksalsschläge hinzunehmen. Technik und Wissenschaft sollen ihn in die Lage versetzen, Verlust und Tod abzuwenden.

 

Die Realisierbarkeit all dieser Hoffnungen ist nicht der entscheidende Punkt, vieles davon ist Science-Fiction und wird es vermutlich bleiben. Der entscheidende Aspekt für alle Experimente ist: die Technik des Klonens ermöglicht den totalen Zugriff auf einen ganzen Organismus. Statt transplantierbare Zellen mühsam züchten und anreichern zu müssen, könnten über den Umweg geklonter Organismen, große Mengen transplantierbarer Zellen oder sogar gleich ganze, gebrauchsfertige Organe hergestellt werden - so die Erwartung mancher Wissenschaftler. (2)

 

Die beiden genannten Anwendungsmöglichkeiten der Klontechnik unterscheiden sich lediglich in ihrer Zielsetzung. Im ersten Fall wird die gezielte Erschaffung, bzw. Vervielfältigung eines bestimmten Individuums angestrebt (reproduktives Klonen), im zweiten Fall ist der Klon eine zum Verbrauch bestimmte Ressource und soll sich nicht als eigenes Individuum entwickeln. Er liefert das Material für angestrebte therapeutische Optionen, weshalb euphemistisch von „therapeutischem Klonen“ gesprochen wird, ohne dass wissenschaftlich erwiesen wäre, ob die in diese Technik gesetzten Hoffnungen begründet sind. Namhafte Wissenschaftler halten das „therapeutische Klonen“ für einen Irrweg. (3)

 

Nicht zu überhören ist jedoch ein beständiges Drängen von Wissenschaftlern und deren Geldgebern in Richtung Politik, alle Optionen offenzuhalten, um den Forschungs- und Wirtschaftsstandort nicht zu gefährden. In solchen interessegeleiteten Erwägungen werden ethische Belange als irrelevant oder zumindest zweitrangig eingestuft.

Innerhalb Europas gibt es Staaten mit eindeutiger Rechtslage wie z.B. Deutschland und Irland, solche mit keinen klaren Regelungen (die Mehrzahl) und solche, die einen gelockerten Embryonenschutz legislativ verankert haben (z.B. Großbritannien). Ein europaweiter Konsens besteht bislang nur hinsichtlich einer gemeinsamen Ablehnung des reproduktiven Klonens. Obskure Sekten und einzelne Wissenschaftler kündigen seit Jahren die Geburt des ersten Klonkindes an und wollen offensichtlich Fakten schaffen. Dem mittels eines internationalen Verbots einen Riegel vorzuschieben war 2001 der Grund für eine Initiative Deutschlands und Frankreichs bei den Vereinten Nationen mit dem Ziel möglichst schnell eine Konvention zur Ächtung des reproduktiven Klonens zu erarbeiten. Die Verhandlungen scheiterten 2002 und wurden auf die nächste Verhandlungsrunde 2003 vertagt, weil die USA und einige andere Staaten einen weitergehenden Vorschlag für ein umfassendes Verbot aller Formen des Klonens unterbreiteten und kein tragfähiger Kompromissvorschlag erarbeitet werden konnte.

 

Anfang dieses Jahres geriet die deutsche Regierung aufgrund ihrer in den internationalen Verhandlungen bezogenen Minimalposition unter Druck. Das Thema Klonverbot war neuerlich in die Schlagzeilen gekommen, weil die Sekte der Realianer Klonerfolge lanciert hatten, die sich nachträglich allerdings als Falschmeldungen herausstellten. Nachdem zunächst die Opposition im Deutschen Bundestag im Alleingang einen Antrag einbringen wollte, einigten die Fraktionen sich schließlich auf einen gemeinsamen Antrag, in dem die Regierung aufgefordert wird, im Vorfeld weiterer Verhandlungen und in den Verhandlungen zu einer VN-Konvention selbst für ein möglichst umfassendes Klonverbot einzutreten. Das Außenministerium signalisierte die Bereitschaft, die ursprüngliche Verhandlungsstrategie zu ändern. Bemerkenswert an diesem Vorgang ist, wie groß die allgemeine Orientierungslosigkeit trotz der in Deutschland eindeutigen Rechtslage ist.

 

Dreh- und Angelpunkt aller Diskussionen über die Frage nach der Zulässigkeit von Experimenten an menschlichen Embryonen, ist die Frage nach ihrem rechtlichen Status, dem Umfang ihres verfassungsrechtlichen Schutzes. Diese Frage ist auch in Deutschland in den letzten Jahren viel und leider nicht immer sachlich diskutiert worden. Auch von Wissenschaftlern war das herabsetzende und sachlich unzutreffende Wort vom Zellhaufen zu hören. Die Diskussion über die „Würde des Embryos“ gab das Thema in manchen öffentlichen Bekundungen der Lächerlichkeit preis. Was sich hier nach meiner Auffassung zeigt, ist konkretistischer Missverstand einer abstrakten, allem Recht zugrundeliegenden Norm, die ihren Wert verliert, wenn sie nicht universal gilt. Wir beeinträchtigen unser aller Würde, wenn wir eine verbrauchende Forschung mit humanen Embryonen gestatten. Keineswegs sind von solchen rechtlichen Ausnahmeregelungen „nur“ die jetzt noch nicht Geborenen, zukünftigen Generationen betroffen. Bevor ich zu diesem Punkt komme, möchte ich zunächst die rechtliche und naturwissenschaftliche Seite des Problems beleuchten.

 

Nach der Verabschiedung des Stammzellgesetzes im Deutschen Bundestag Anfang 2002, sagte die damalige Vorsitzende der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ Margot von Renesse, die Forschung an importierten humanen Embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) könne in Deutschland nicht verboten werden, denn ES-Zellen seien „leider keine Embryonen“. Die Herstellung menschlicher Embryonen zu einem anderen Zweck als der Herbeiführung einer Schwangerschaft ist nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz ebenso verboten wie die Entnahme von embryonalen Zellen zu Forschungszwecken. Zum einen, weil dadurch der Embryo zu Schaden kommen könnte, zum anderen, weil in einem sehr frühen Stadium entnommene embryonale Zellen selbst die Potenz besitzen, sich wie ein Embryo zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln. Nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz sind solche totipotenten Zellen dem Embryo rechtlich gleichgestellt.

 

Gegenwärtig wird in Analogie zu Experimenten mit embryonalen Stammzellen der Maus davon ausgegangen, dass die Fähigkeit der ES-Zellen, sich zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln (Totipotenz) bereits im 8-Zell-Stadium der befruchteten Eizelle nicht mehr gegeben ist. Das Gesetz, das den Import humaner embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, wäre Makulatur, würde sich herausstellen, dass die hier beschriebene Vorannahme zur Potenz dieser Zellen nicht zutrifft. Nach den insgesamt allerdings nicht zahlreichen Experimenten mit Primaten deutet einiges darauf hin, dass es sich so verhalten könnte.

 

Zu den Begriffen Toti- und Pluripotenz existieren unterschiedliche Definitionen. Hier wird die auch von der National Bioethics Advisory Commission (NBAC) der USA bevorzugte Maximaldefinition von Totipotenz verwendet: Totipotenz ist demnach die Fähigkeit zur Bildung eines ganzen, harmonisch gestalteten (mit den Achsensystemen des Körpers ausgestatteten) und lebensfähigen Embryos. Der Begriff Pluripotenz wird demgegenüber für zwei Phänomene verwendet, die unterschieden werden sollten: Er kann zum einen bedeuten, dass die Fähigkeit zur Bildung vieler (pluri), aber nicht aller Zellarten des Körpers gegeben ist. Dies gilt zum Beispiel für somatische adulte Stammzellen. Der Begriff Pluripotenz wird zweitens verwendet, wenn die Fähigkeit zur Bildung aller Zellarten des Körpers, aber nicht unbedingt auch die Fähigkeit zur Selbstorganisation (Achsensystem) vorliegt. Dies würde die Fähigkeit zur Bildung eines Tumors aus Zellen, die allen drei Keimblättern entstammen, aber nicht das Potential eines lebensfähigen Embryos beschreiben. (4)

 

Das Dilemma der Forschung besteht darin, dass die Totipotenz von ES-Zellen des Menschen nur durch ein unter ethischem Aspekt und gemäß dem geltenden Embryonenschutzgesetz verbotenes Experiment überprüft werden könnte. Dessen Ziel wäre ja die Bildung eines (geklonten) ganzen, harmonischen, prinzipiell lebensfähigen Embryos. Da dies nicht möglich ist, bleibt die Extrapolation von Experimenten an tierischen ES-Zellen, die einige Rückschlüsse erlauben und schon zum jetzigen Zeitpunkt Fragen aufwerfen, die nicht einfach beiseite gewischt werden sollten.

Im Zusammenhang mit Experimenten der Chimärenbildung bei der Maus zeigte sich, dass ES-Zellen sich genauso verhalten wie die Zellen eines normalen zweiten Embryos und sich am Aufbau aller Organe beteiligen. In einer Abwandlung der Methodik wurden als Wirts-Embryonen spezifisch vorbehandelte, letal geschädigte Blastomeren verwendet: Durch Elektrofusion wurde erreicht, dass diese Zellen einen vierfachen Chromosomensatz enthielten, d.h. sie wurden tetraploid. Aus diesen vorbehandelten Blastomeren und ES-Zellen wurde nun eine Chimäre hergestellt und nach Kultur in den Uterus von scheinträchtigen Weibchen eingebracht. Innerhalb der eigentlichen Embryonalanlage haben die tetraploiden Helfer-Zellen nur eine begrenzte Lebensdauer. Sie helfen bei der Einnistung des Chimären-Embryos im Uterus, in dem sie sich zusammen mit den ES-Zellen am Aufbau von Plazenta und Dottersack beteiligen, danach gehen sie zugrunde. „Wie sich herausstellte, sind in diesem experimentellen Ansatz ES-Zellen in der Lage, sich zu einer Maus zu entwickeln, die vollständig und ausschließlich aus ES-Zellen hervorgegangen ist und sich als lebensfähig und fruchtbar erweist. Allerdings zeigte sich auch, dass diese bemerkenswerte Fähigkeit von ES-Zellen nicht bei allen Zelllinien in der gleichen Weise gegeben ist und dass ES-Zellinien eine Tendenz haben, nach langer In-vitro-Kulturzeit diese Fähigkeit mehr und mehr zu verlieren. Diese Beobachtungen von Nagy et al. (1990, 1993) sind in vielen Labors bestätigt worden und gelten als gesichertes embryologisches Wissen.“ (5)

 

Hinsichtlich der prinzipiellen Frage nach Pluripotenz, Omnipotenz oder Totipotenz von ES-Zellen wirft das beschriebene Experiment die Frage auf, welchen Beitrag die vorgeschädigten Helfer-Zellen geliefert haben. Steuern sie Wesentliches bei, obwohl sie an der Bildung des Körpers der Maus nicht direkt beteiligt waren, machen sie auf diese Weise ES-Zellen erst totipotent, oder gestatten sie es den ES-Zellen lediglich, ihre vorhandene Totipotenz manifest werden zu lassen? ES-Zellen der Maus bilden im Gegensatz zu ES-Zellen von Primaten kaum Trophoblast. Das sind die Zellen, die ermöglichen, dass ein Embryo sich in den Uterus einnistet. Versuche mit Weißbüscheläffchen verliefen deshalb anders. Hier zeigte sich, dass ES-Zellen aus sich heraus in der Lage sind, embryoid bodies zu bilden, die in erstaunlicher Weise Embryonen in Postimplantationsstadien ähneln. Aufgrund der fragilen Struktur dieser Gebilde ist eine Implantation in den Uterus gegenwärtig technisch noch nicht machbar. Auf das entscheidende Experiment wird man also noch warten müssen. Allerdings spricht vieles dafür, dass menschliche ES-Zellen sich ähnlich verhalten werden wie die ES-Zellen von Weißbüscheläffchen und Rhesus-Affen. Angesichts dieser Fakten scheint es geboten, auf den Einsatz menschlicher embryonaler Stammzellen so lange zu verzichten, bis der begründete Verdacht möglicher Totipotenz in gezielten Experimenten an ES-Zellen von Primaten entkräftet worden ist. Für die gegenwärtige Ethikdebatte in Deutschland wäre solchermaßen gesichertes Wissen jedenfalls sehr hilfreich. (6)

 

Ein weiterer Ansatz zur Herstellung embryonaler Stammzellen verfolgt das Ziel, eine Eizelle ohne Befruchtung durch ein Spermium und ohne Kerntransfer zur Teilung anzuregen. Dieses Verfahren der Aktivierung einer ungeschlechtlichen Fortpflanzung (parthenogenetischen Aktivierung) wird auch „Jungfernzeugung“ genannt und erfolgt durch die Inkubation von Eizellen mit Schwangerschaftshormonen und Chemikalien. Mehreren Wissenschaftlern ist es inzwischen mit dieser Methode gelungen, aus Eizellen von Mäusen, Kaninchen und Affen embryonale Stammzellen zu gewinnen. Gelänge dies auch mit menschlichen Eizellen, würde das Klonen überflüssig. (7)

 

Ganz gleich, welches Verfahren sich durchsetzt, der Einsatz menschlicher Eizellen bleibt notwendig. Für die Etablierung einer Zelllinie werden schätzungsweise 280 Eizellen gebraucht. Zudem führt die Herstellung der begehrten Zellen über den Umweg der Erzeugung von Embryonen. Die Entnahme von Eizellen ist aufgrund der notwendigen Stimulation mit Hormonen ein sehr belastender Eingriff für die betroffenen Frauen. Vielleicht ist es bald möglich, Eizellen in Kultur zu vermehren, dann würde in diesem Punkt Abhilfe geschaffen, das Problem einer verbrauchenden Forschung mit menschlichen Embryonen bleibt aber bestehen, egal auf welchem Weg diese Embryonen erzeugt werden.

 

Wenn wir die Forschung gestatten, wird es nicht bei wenigen für diese Zwecke geopferten Embryonen bleiben. Schon jetzt ist die Verquickung von Forschung und wirtschaftlicher Nutzung so eng, dass das eine das andere automatisch nach sich zieht. Nur der Einsatz adulter Stammzellen, die isoliert und für Transplantationszwecke angereichert werden, ist nicht behaftet mit dem grundsätzlichen ethischen Problem, die eine Vernutzung und Instrumentalisierung von Embryonen mit sich bringt. Neueste Befunde geben zu der Hoffnung Anlass, dass es sich bei diesen auch Erwachsenen entnehmbaren Zellen um ein ebenfalls mit sehr vielfältigen Differenzierungsmöglichkeiten ausgestattetes Zellmaterial handelt, das nicht nur unter ethischen Gesichtspunkten unproblematisch wäre, sondern zudem unter immunologischen Aspekten große Vorteile gegenüber Fremdspenderzellen hätte.

 

Der kurze Überblick hat deutlich gemacht, dass wir in Hinblick auf menschliche embryonale Stammzellen nicht nur keinen sicheren naturwissenschaftlichen Sachstand haben, sondern dass es auch falsch wäre, sich in der Debatte auf Klontechniken zu kaprizieren. Die Frage, die sich als nächstes stellt ist, ob wir ethische Sätze und Normen, die bislang einen hohen Grad gesellschaftlicher Integration in allen Bereichen unseres Zusammenlebens gestiftet haben, jetzt über Bord - gleichsam ins Kielwasser unserer Unwissenheit - schütten sollen, weil wir glauben, dass wir dadurch unser Fortkommen fördern. Einige Naturwissenschaftler fordern dies im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts. Sie argumentieren, neue Therapien für bislang nicht heilbare Krankheiten (wie Parkinson, Multiple Sklerose, Alzheimer etc.) könnten nur dann entwickelt werden, wenn Wissenschaftler freie Hand hinsichtlich ihrer Experimente mit menschlichen Embryonen bekommen. (8) Unser Bundeskanzler schloss sich diesem hypothetischen Imperativ einer „Ethik des Heilens“ an: Er sagte sinngemäß, wenn diese neuen Therapien in anderen Ländern entwickelt würden, sei ein prinzipielles Nein nicht mehr möglich. Deshalb plädierte er dafür, die ethische Hürde vorsorglich tiefer zu hängen und die Forschung in Deutschland wenigstens an importierten humanen embryonalen Stammzellen zu ermöglichen. (9) Gleichzeitig ist vielfach zu hören, von Wissenschaftlern genauso wie von Politikern und Bürgern, es gäbe in diesen ethischen Belangen keine Möglichkeit für einen gesellschaftlichen Konsens und sie empfehlen deshalb, gar nicht weiter miteinander zu streiten und die Widersprüche auf sich beruhen zu lassen.

 

Ich bin der Auffassung, dass es vor allem außerordentlich wichtig ist, miteinander zu diskutieren und ich glaube ferner, dass es in diesen uns alle existentiell und unsere Wertordnung als Ganzes betreffenden Fragen nicht gleichgültig ist, wie wir diskutieren.

 

Ethikkommissionen, die überall in Europa in den letzten zehn Jahren in großer Zahl, mit unterschiedlichem Handlungsauftrag, Organisationsform und Kompetenz ausgestattet ins Leben gerufen worden sind, haben genau in dieser Frage ihre Berechtigung: sie können den Modus des Diskurses beeinflussen, den wir alle am Rande tiefer weltanschaulicher Brüche und unlösbar scheinender Kontroversen zu führen haben. Eine unabhängige Ethikkommission kann mit einem exemplarischen Diskurs bewirken, dass wir wenigstens genau wissen, worüber wir streiten, welche Alternativen zur Auswahl stehen und was für Konsequenzen wir zu gewärtigen haben, je nachdem für welche Wertordnung wir uns entscheiden. Es ist grundfalsch anzunehmen, dass die Aufgabe einer solchen Kommission darin bestehen könnte, stellvertretend für die Bürger oder die Politiker einen Konsens zu erarbeiten. Bürdet man ihr diese Last auf, wird man feststellen, dass sich auf Kommissions-Ebene das gleiche Szenario wiederholt, dass wir in den vielen auf Kongressen oder in Medien und Fachzeitschriften ausgetragenen Debatten beobachten können: die Fronten verhärten sich, eine knappe Mehrheit als vermeintlicher Konsens verdeckt den tieferliegenden Dissens, den wir nach dem Kommissions-Votum nicht besser verstehen als vorher.

 

In Deutschland ist in der letzten Legislaturperiode vom Parlament eine Enquete-Kommission zum Thema „Recht und Ethik der modernen Medizin“ eingesetzt worden, die den Auftrag erhielt, grundsätzliche Fragen für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aufzuarbeiten. Gleich mehrere strittige Themen standen auf der Tagesordnung: Patentierung von Lebewesen bzw. ihren Teilen (Zellen, Gewebe, Gensequenzen); Import von humanen embryonalen Stammzellen; Techniken der modernen Reproduktionsmedizin und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen (Pränataldiagnostik, Präimplantationsdiagnostik); Empfehlungen für ein Gentestgesetz.

 

Noch im selben Jahr setzte der Bundeskanzler über eine Verordnung einen Nationalen Ethikrat ein, dessen Mitglieder er selbst berief, und erteilte diesem Gremium den Auftrag, unabhängige Expertisen zu ethischen Fragen der modernen Medizin zu erarbeiten. Von Anfang an bestand zwischen dem befristeten Gremium des Parlaments und dem ohne Befristung eingesetzten Nationalen Rat eine heftige Konkurrenz. Für die Sachdiskussion war dies nicht nur abträglich, denn die Konkurrenzsituation förderte naturgemäß das Interesse von Medien und Öffentlichkeit. Allerdings stieß die Berufung von Ethikexperten durch den Regierungschef auf heftige Kritik besonders aus Oppositionskreisen. Strenggenommen hat der Nationale Ethikrat jedoch lediglich die völlig legitime Funktion eines Regierungsbeirats, auch wenn sein Name einen umfassenderen Anspruch vorspiegelt.

 

Nach der Wahl im September 2002 blieb die Frage, ob auch eine neue Enquete-Kommission eingesetzt werden sollte, eine Weile lang offen. Die schon erwähnte Diskussion zur Frage eines umfassenden internationalen Klonverbots gab dann den Ausschlag, dass die Fraktionen des Deutschen Bundestages sich wieder auf einen gemeinsamen Einsetzungsantrag einigten. Die neue Enquete-Kommission wird diesmal unter dem Namen „Ethik und Recht der modernen Medizin“ firmieren und sie hat auf den ersten Blick weniger spektakuläre Themen auf der Agenda. Dies bietet die Chance in weniger aufgeregter Stimmung einen positiven Neuentwurf dessen zu erarbeiten, was moderne Medizin sein könnte. Technische Machbarkeitsszenarien, die Hoffnung darauf mittels Technik die jedem Einzelnen zur Verfügung stehende Lebensspanne immer weiter auszudehnen, stehen dabei auf der einen Seite der Rechnung, auf der anderen Seite stehen die Kosten, die auf ein ohnehin unter Druck geratenes System zukommen, das ethische Problem einer gerechten Verteilung begrenzter Mittel und die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen eines immer stärker am Individuum und seinen Erwartungen ausgerichteten Systems.

 

In der Diskussion zur Reform unseres Gesundheitssystems stehen wir mit dem Rücken zur Wand. Ein ‚weiter wie gehabt‘ mit geringfügiger Kostenkosmetik wird uns nicht aus dem eigentlichen Dilemma herausführen, dass wir kein allseits akzeptiertes Kriterium haben, nach dem sich definieren ließe, was medizinisch notwendig ist und was nicht. Es ist noch nicht einmal entschieden, wer auf welcher Ebene entscheiden soll, was notwendig ist. Wir haben keinen gemeinsamen Nenner mehr für die divergierenden Einzelinteressen, keine politische Zielvorstellung, die Akzeptanz für schmerzhafte Schnitte schaffen würde.

 

Ein meines Erachtens sehr wichtiger Auftrag der nun neu eingesetzten Enquete-Kommission besteht daher darin, eine positive Zielsetzung nationaler Gesundheitspolitik zu formulieren. Ein wichtiger Ausgangspunkt dafür ist eine präzise Definition des schillernden Begriffs Selbstbestimmungsrecht. Nur im Begriff der Autonomie lässt sich ein hartes Kriterium dafür finden, was der Einzelne berechtigterweise von der Allgemeinheit fordern kann. Mit einem solchen Kriterium hätten wir ein Reformprinzip an der Hand, um die schwierige Balance zwischen Über- und Unterforderung des Einzelnen herzustellen und die gegenwärtige Situation von einerseits Über- und andererseits Unterversorgung unter Wahrung der Gerechtigkeit ins Lot zu bringen.

 

Lange Zeit war der Aspekt bestmöglicher Versorgung derer, die sich nicht selbst helfen können, das Paradigma sozialstaatlichen Handelns. Soziale Gerechtigkeit wurde primär als Verteilungsgerechtigkeit verstanden und über systemimmanente Transferleistungen geregelt. Einerseits kommen wir jetzt nicht umhin zuzugeben, dass dieses System über kurz oder lang wegen rasant steigender Kosten seine Akzeptanz verlieren wird, andererseits stellt sich die Gerechtigkeitsfrage inzwischen neu und anders. Am besten ist dies bereits jetzt im Bereich der Pflege zu sehen. Immer weniger Menschen wollen im Heim gepflegt werden. Hilfsbedürftige klagen ihr Recht auf autonome Lebensgestaltung auch in der letzten Lebensphase ein, behinderte Menschen wollen nicht mehr als Fürsorgeobjekte von Wohlfahrtsverbänden angesehen werden. Die Menschen selbst fordern von der Gesellschaft Hilfe zur Selbsthilfe, Unterstützung und Vorsorge statt Versorgung. Hier zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, der die Gesellschaft insgesamt ohnehin zum Umdenken nötigen wird. Besser wäre es, die Gesellschaft würde dies rechtzeitig und offensiv tun, denn in dieser Entwicklung liegen viele Chancen und wenig Risiken.

 

Das Thema selbstbestimmte Lebensgestaltung in allen Lebenslagen und Patientenautonomie liefert den theoretischen Aufriss für viele weitere Einzelthemen, denen sich die neue Enquete-Kommission zuwenden muss. Daran hängt das Arzt-Patienten-Verhältnis, die immer wieder hochkochenden Forderungen nach aktiver Sterbehilfe und das Problem der Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen. Der Autonomiebegriff ist es auch, der bedeutungsschwer hinter unserem ersten Verfassungsartikel steht. Dieser lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

 

Behauptungen mit ethischem Hintergrund sind schnell aufgestellt und sie lassen sich fast beliebig als Todschlagargument verwenden. Wer dies dann mit der Verfassung und der Ewigkeitsgarantie unseres ersten Verfassungsartikels verknüpft, kann sich für immun gegen jeglichen Einwand halten. Wer umgekehrt argumentiert, der Würde-Artikel sei bloß inhaltsleeres ethisches Beiwerk und müsse bei der Gesetzgebung keine große Rolle spielen, verkennt Sinn und Zweck des Art. 1 Abs.1 GG gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen. (10)

 

Seinen Ursprung hat dieser Verfassungsartikel in einer historischen Erfahrung: Der Erfahrung nämlich, dass es etwas geben kann, was schlimmer ist als auf grausame und brutale Weise das Leben zu verlieren. Die allumfassende menschliche Entrechtung der Juden während der Zeit des Dritten Reichs mündete in die physische Vernichtung. Zuvor verloren die Opfer in vielen einzelnen Etappen ihre Würde. Roman Polanski hat in seinem neuen Film „der Pianist“ genau diese umfassende Entwürdigung transparent gemacht. Der Held ist ein Künstler, dem das Kunststück gelang, sein Leben und seine Würde zu bewahren. Die Rettung hatte er der Tatsache zu verdanken, dass ein Nazi sein Klavierspiel mochte. In sehr beeindruckender Weise zeigt dieser Film, dass Menschen beides oder nur eines von beidem verlieren konnten und welche Konsequenzen sich daraus für ihr persönliches Schicksal ergaben.

Diese Erfahrung ist heute nicht überholt und im gegebenen Zusammenhang hochaktuell. Sie besagt hier wie dort: Einzelne Menschen dürfen in Hinblick auf Ihresgleichen nicht die Macht haben zu definieren, wer Mensch ist und wer nicht. Übertragen auf die gegenwärtige Diskussion zur Medizinethik besagt dies, dass Menschen nicht die definitorische Macht haben dürfen, zu sagen, ab wann jemand ein Mensch ist und ab wann nicht mehr. Dies ist formal das ethische Minimum, weil es die logische Voraussetzung dafür ist, dass Menschenrechte universal gelten. Wenn wir die Ermöglichungsbedingung unversaler Menschenrechte abschaffen oder uns darin üben, sie gelegentlich zu ignorieren, müssen wir nicht so tun als hätten diese kleingeredeten Ausnahmen keine Auswirkungen auf die Rechtswirklichkeit insgesamt. Wir müssen auch nicht meinen, dass wir Fehlentwicklungen zu einem späteren Zeitpunkt aufhalten können, nachdem wir sie zunächst mit den allerbesten Vorsätzen in Ausnahmefällen ermöglicht haben.

 

Richtig ist, dass die Konsequenzen eines Dammbruchs immer erst besichtigt werden können, wenn die Flut kommt. Erst dann, so ist zu den kritischen Gesichtspunkten hinsichtlich der Gültigkeit des ethischen Dammbruch-Arguments anzumerken, weiß man mit letzter empirischer Sicherheit, dass das Fundament der Rechtsordnung betroffen war. Allerdings kann der Mensch sich solches Erfahrungswissen auch ersparen, wenn er seine Vernunft im Vorfeld konsultiert.

 

Bei der Aufweichung des Embryonenschutzes sind zunächst und unmittelbar „nur“ alle zukünftigen Menschen betroffen. Möglicherweise profitieren bereits Geborene, die ihre Hoffnungen auf neue Therapiemöglichkeiten für bislang nicht heilbare Krankheiten setzen oder Eltern, die Einfluss auf die genetische Ausstattung ihrer Kinder nehmen wollen und dies nach Maßgabe des jeweils rechtlich Zulässigen tun werden. Richtig ist auch, dass nur Geborene handfeste Interessen haben, entsprechende Forderungen stellen und sofern sie das richtige Alter haben, wählen gehen. Daraus zu folgern, dass nur Geborene Rechte haben, ist aber ein offensichtlicher Kurzschluss. Ebenso verkürzend wie die populistische Suggestion, dass Menschen nur Rechte haben - sie haben auch Pflichten. Die Pflicht zumal auch künftigen Generationen das Recht auf eine autonome Lebensführung uneingeschränkt zu sichern. Wer die ersten Tage nach der Befruchtung der Eizelle aus dieser Schutzverpflichtung herausnimmt, kann dieses Recht nicht mehr sicherstellen, auch dann nicht, wenn er es aufrichtig will! Ein verbindlicher rechtlicher Status des ungeborenen Lebens ist darum unbedingt erforderlich. Negativdefinitionen wie die in Großbritannien etablierte Formel ‚nicht zu beliebigen Zwecken instrumentalisierbar‘ reichen nicht aus. Wer die bestehende Regelung aufweichen will, ist in der Bringschuld und muss einen tragfähigen Vorschlag unterbreiten, wie der Schutz des ungeborenen Lebens gewährleistet werden kann. Unplausible biologische Definitionen oder das Votum einer Ethik-Kommission sind windige juristische Konstruktionen, die in Deutschland mit der Verfassung nicht vereinbar wären.

 

Jede Rechtsordnung basiert auf ethischen Grundsätzen, ob dies nun in der Verfassung selbst ausdrücklich steht, wie im deutschen Grundgesetz mit dem Art. 1 Abs. 1 oder nicht.

Anderen ethischen Grundsätzen korrespondieren andere Rechtsordnungen. Hinter der amerikanischen Verfassung beispielsweise steht ein System utilitaristischer Prägung. Das gravierendste und nicht behebbare Problem derartiger ethischer Theoriebildungen ist, dass sie eine Ethik mit beschränkter Haftung begründen: nicht intendierte Folgen muss der Handelnde nicht verantworten. Dies sind dann Kollateralschäden der modernen Zivilisation, Nebenfolgen, für die niemand verantwortlich ist. Fragt man weiter und man sollte weiterfragen, wird deutlich, dass ein solcher Verantwortungsbegriff eigentlich gar keine Verantwortung impliziert. Wer sollte den Gegenbeweis antreten können, wenn gesagt wird, diese oder jene Entwicklung sei gar nicht intendiert gewesen. Damit fragt sich, ob und inwieweit eine Ethik utilitaristischer Prägung überhaupt eine Ethik ist. Jedenfalls ist sie für hochtechnisierte Industrienationen, die mit ihrer Wirtschaftsweise beträchtliche Nebenwirkungen auf Natur, Umwelt und jedes einzelne Individuum zeitigen, kein tragfähiges geistiges Vorsorgesystem. Sollten wir ernstlich warten, bis noch der letzte empirische Beweis hierfür vorliegt?

 

Bei der gegenwärtigen Bewertung der beiden möglichen Zielsetzungen des Klonens (sog. „therapeutisches und reproduktives Klonen) zeigt sich, legt man wie hier vorgetragen die Aspekte Würde und Lebensrecht zugrunde und blendet die gegenwärtigen Probleme bei Anwendung der Techniken aus, folgendes Dilemma: auf der einen Seite scheint das reproduktive Klonen die verwerflichere Option, wird doch auf diese Weise gezielt ein bestimmtes Individuum erschaffen. Auf der anderen Seite wird diesem Individuum aber wenigstens ein Lebensrecht konzediert und einmal geboren, käme dem Klon-Menschen zweifellos auch Würde und Rechte zu.

 

Beim „therapeutischen“ Klonen handelt es sich demgegenüber um eine totale Instrumentalisierung des Embryos, denn ihm wird jedes Lebensrecht abgesprochen. Gleichzeitig wir diese Technik als die ethisch weniger bedenkliche Option angepriesen, weil das gentechnisch manipulierte Geschöpf niemals leben soll. In der Medizinethik stand Derartiges in Hinblick auf geborene Menschen niemals zur Debatte. Niemand würde vorschlagen, dem einen ein lebenswichtiges Organ zu entnehmen, um einen anderen zu heilen. Die Begriffsschöpfung „Ethik des Heilens“ soll genau diesen Sachverhalt verdecken, sie soll die verbrauchende Forschung mit Embryonen als ethisch hochwertiges Unternehmen ausweisen.

 

Es war ein Fortschritt in der ethischen Theoriebildung, den möglichen Erfolg einer Handlung nicht zum Kriterium für ihre Zulässigkeit zu nehmen. Zwangsläufig ergibt sich hinsichtlich der ethischen Orientierung eine Verschiebung von Beurteilungskriterium und Zwecksetzung, wenn der pursuit of happiness als das oberste Recht der Bürger angesehen wird. Wenn das Streben nach Glück zu einer wesentlichen Maxime des Handelns wird, ist dies in ähnlicher Weise erfolgsabhängig wie hypothetische Heilungsaussichten. „Der Wille (...) nach der Maxime der Glückseligkeit schwankt zwischen seinen Triebfedern, was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg, und der ist sehr ungewiss; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwickeln und sich in der Zusammenrechnung nicht zu betrügen.“ (11) schreibt Kant, dem gerne vorgeworfen wurde, er gönne den Menschen ihr Glück nicht. Er hatte einen besseren Grund davor zu warnen, das erhoffte Glück, bzw. den anvisierten Erfolg einer Handlung zum Maßstab des Handelns zu machen.

 

Unserer Verfassung liegt das Kantische Verständnis von Ethik zugrunde. Auch wenn die Väter der Verfassung sich ausdrücklich auf keine bestimmte philosophische Tradition festlegen wollten, zeigt sich dies in einer formal-juristischen Analyse und in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts. (12) Demzufolge liefert der ethische Grundsatz, der im Art. 1 Abs 1 GG positivrechtlich festgeschrieben ist, ein formales negatives Ausschlusskriterium. Erst wenn ein Vorhaben diese Hürde passiert hat, kann unter verbleibenden Optionen und unter Berücksichtigung anderer Gesichtspunkte ausgewählt und entschieden werden. Erst jetzt können Politiker strategische Erwägungen anstellen oder Erfolgsaussichten zum Tragen kommen. Wer das hierdurch vorgegebene rationale Prozedere unterläuft und die Grundsätze dem Zweck unterordnet, spannt die Pferde hinter den Wagen, wie Kant es treffend ausgedrückt hat. (13) Die Ethik ist ein starkes Zugpferd, wenn wir gesellschaftliche Ziele an ihr ausrichten. Der Politik bietet sie ein klares Orientierungswissen. Wenig glaubwürdig ist sie als Anhängsel und nachträglich notdürftig angeklebte Rechtfertigung für politisches Handeln, das anderen Zwecken verpflichtet ist.

 

Heilungschancen dürfen jedenfalls nicht zu modernen Heilserwartungen werden und Politiker dürfen sich nicht als säkulare Sachwalter solcher Hoffnungen verstehen. Es ist gefährlich, wenn Wissenschaft und Technik in die Lücke einrücken, die zuvor von Religionen oder anderen Sinnstiftungssystemen ausgefüllt wurde. Die Technik bietet keinen Trost für enttäuschte Hoffnungen. Oft ist sie eine risikobehaftete Handlungsoption. Obwohl das Bewusstsein über diesen Problemzusammenhang allgemein zunimmt, verschweigen wir uns gerne Nebenwirkungen und nicht intendierte Folgen unseres technischen Handelns. Menschen, denen die moderne Hochleistungsmedizin nicht oder nicht mehr helfen kann, rücken ins Abseits unserer Gesellschaft. Zunehmend werden lindernde Methode benachteiligt, zum Beispiel befindet sich die Palliativmedizin (Schmerzstillung) in einer desolaten randständigen Position. Damit verkümmert ein sehr wichtiger Teil des traditionellen ärztlichen Handelns und die Tabuzone des Todes, dem wir gleichwohl nicht entrinnen, wächst.

 

Statt weiterhin nur einem diffusen Fortschrittskonzept im Rahmen von naturwissenschaftlicher Forschung und neuen Technologien nachzulaufen, sollten wir uns in unserem gesellschaftlichen und politischen Handeln endlich wieder auf den menschlichen Fortschritt konzentrieren, den wir im Interesse aller, ohne fahrlässige Hypothek auf zukünftige Entwicklungen bewirken können. Wir stehen an dem Punkt, wo wir weiteren technischen Fortschritt möglicherweise erkaufen mit humanitären Rückschritten und wir sollten zumindest aufhören zu glauben, wir könnten alles haben. Das ist nur im schlechten Hollywood-Kino der Fall, wo der Erfolgreiche gleichzeitig gut, schön, gesund und reich ist. In der Wirklichkeit hat Erfolg meist einen Preis. Die Frage ist, welchen Preis wir bereit zu zahlen bereit sind und an welchem Punkt wir unsere Würde preisgeben. Die Frage ist dann auch, von welcher Dauer solcher Erfolg sein kann und was ein Leben ohne Würde wert ist.

 

 

[1] Giovanni Maio, Das Klonen im öffentlichen Diskurs. Über den Beitrag der Massenmedien zur Bioethikdiskussion. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 47, Ostfildern 2001, S.33-52. Zum Thema Menschenerschaffung: Verena Wetzstein, „Lasst uns Menschen machen...“ Über Homunculi und andere Kreaturen, ebd. S. 313-321.

[2] Zu verschiedenen Aspekten Fuat S. Oduncu, Ulrich Schroth, Wilhelm Vossenkuhl (Hg.): Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen, Göttingen 2002.

[3] So der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Ernst-Ludwig Winnacker anlässlich der „Berliner Wissenschaftsgespräche“ am 12. März 2003. Berliner Zeitung 13.03.2003.

[4] Hans-Werner Denker: Forschung an embryonalen Stammzellen. Eine Diskussion der Begriffe Totipotenz und Pluripotenz. In: Stammzellforschung und therapeutisches Klonen (s. Anm. 2), S. 24 f. Denker schlägt vor in diesem Fall von Omnipotenz zu sprechen.

[5] ebd. S. 27 f. Experiment Nagy et al. 1990, 1993.

[6] ebd. S.28 ff. Experiment Thomsen et al. 1996.

[7] Ingo Hillebrand, Dirk Lanzerath, Klaus Dietrich Wachlin (Hg.): Klonen, Stand der Forschung, ethische Diskussion, rechtliche Aspekte, 2. aktualisierte Aufl., Stuttgart 2002, S. 14 ff.

[8] Zuletzt Detlev Ganten: Ein Plädoyer für das therapeutische Klonen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.02.2003, Nr.46, S.35.

[9] Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 14/ 214. Stenographischer Bericht der Debatte vom 30. Januar 2002, 21209 B.

[10] Wolfgang Wodarg: Diesseits des Rubikon? Politische Standortbestimmung im Streit um die rechtliche und moralische Auslegung der Menschenwürde. In: Matthias Kettner (Hg.) Politik der Menschenwürde und biomedizinischer Fortschritt, 2003 Suhrkamp-Verlag.

[11] Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis; Zum ewigen Frieden, ein philosophischer Entwurf, kritisch hersg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg 1992, A 228, S.17f.

[12] Tatjana Geddert-Steinacher: Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassunggerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, Berlin 1990.

[13] I.Kant (s. Anm. 11) Zum ewigen Frieden, B 87, S. 91.

 

*Mit großem Dank für die Hilfe meiner Mitarbeiterin Susanne Mauersberg