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Gedanken zur aktuellen Diskussion um die Organspende

Um Organspende wird in der Bundesrepublik Deutschland seit 40 Jahren massiv geworben. Wer seinen Körper zur Verfügung stellt, soll angeblich damit das Leben anderer automatisch verlängern oder dessen Qualität wesentlich verbessern helfen können. Leider ist das ein viel zu positiv gezeichnetes Bild.

Der Gesundheitsminister wiederholt die Zahlen der Transplantationslobby, die behauptet, 80 Prozent der Menschen in Deutschland seien für die Organspende. Eine neuere Umfrage hat aber gezeigt, dass viele Menschen, – auch solche, die einen Organspendeausweis tragen – die Bedingungen und Prozeduren der Organspende gar nicht kennen. Ein Drittel der Befragten wusste z.B. nicht, dass in Deutschland der Hirntod zwingende Voraussetzung für eine Organspende ist.

Obwohl Bundesregierung und Krankenkassen seit vielen Jahren hohe Kosten aufbringen, um für die Organspende zu werben, haben sich in den letzten Jahren immer weniger Menschen hierzu bereit erklärt. Woran liegt das?

Es gibt keinen einfachen Grund für diese Zurückhaltung. Vielmehr sind es viele unterschiedliche Zweifel an der Praxis der Organtransplantation, die alle sehr wohl ernst zu nehmen sind.

1. Wann dürfen Organe entnommen werden?

Erst nach dem Hirntod, dem Hirnversagen, also des Organs, welches für die bewusste Wahrnehmung und die Koordination der Körperfunktionen unerlässlich ist, dürfen Organe entnommen werden.

Wenn ein Hirntod diagnostiziert wurde, wird ein Totenschein ausgefüllt, obwohl das Herz noch schlägt und 97 Prozent des Körpers weiterhin lebendig sind, denn für die Transplantation verwertbar sind nur jene Organe, die aus einem lebendigen Leib entnommen werden. Und das ist fast alles – außer dem Gehirn.

Wenn das Gehirn versagt, sterben wir normalerweise und es gibt auch dann ein Recht auf palliative, beschützende und begleitende Behandlung sowie Fürsorge bis zum Tod. Wenn das Gehirn versagt, ist eben nicht gleich der ganze Mensch tot.

Ein „hirntoter“ Patient kann noch für eine gewisse Zeit mit künstlicher Beatmung am Leben erhalten werden. Bekannt sind z.B. schwangere Frauen, bei denen noch Monate nach dem Hirnversagen ein lebendes Kind entbunden werden konnte.

 

2. Wie und unter welchen Umständen wird der Hirntod festgestellt?

Wer sich zum Organspender erklärt, ist damit einverstanden, dass bei ihm eine Hirntod-Diagnostik durchgeführt wird. Das ist eine Prozedur, die vermehrt von Spezialisten, die mit der Deutschen Stiftung Organspende zusammenarbeiten durchgeführt werden soll. Bei dieser neurologischen Diagnostik werden die Reflexe und Körperreaktionen u.a. auf starke Schmerzreize untersucht. Erst wenn durch dieses sehr belastende Verfahren ein Hirnversagen bewiesen ist, dürfen Organe entnommen werden. Hierzu wird der Patient weiterhin durch spezielle Verfahren der Intensivmedizin am Leben erhalten, bis alle Organe entnommen sind.

Leider hat die Lobby der Transplantationsmedizin erreicht, dass die Mehrheit des Bundestages bereit war, den Hirntod mit dem traditionellen, vollständigen Tod rechtlich gleichzusetzten. Das führt immer wieder zu Missverständnissen und zu Zweifeln an der Transplantationspraxis.

 

3.    Wer erhält ein gespendetes Organ?

Die Praxis der Organverteilung hat sich immer wieder als intransparent erwiesen. 2005 kam heraus, dass in einigen Transplantationszentren Privatpatienten unverhältnismäßig viele Organe erhielten. Dann kam es zu großen Skandalen, weil Ärzte ihre Patienten auf dem Papier kranker dargestellt haben, damit diese schneller ein Organ erhalten.

Die Durchführung der Organspenden und der Organverteilung ist nicht-staatlichen, privatrechtlichen Organisationen (DSO=Deutsche Stiftung Organspende und Eurotransplant (Sitz in Leiden/NL) anvertraut worden, die vermutlich ein Eigeninteresse an der Ausweitung ihres Geschäftsbereichs haben. Auch in den 47 deutschen Transplantationszentren und bei der immer erforderlichen, lebenslangen immunsuppressiven Nachbehandlung wird gut mit den gespendeten Organen verdient, obwohl der Handel mit Organen selbst gesetzlich verboten ist.

Ein Geschäft darf aber mit Geweben gemacht werden. Das sind Hornhäute, Herzklappen, Knochen, Haut und viele andere Körperteile. Diese sind gesetzlich als Rohstoff für Medikamente eingeordnet und werden nach der Organgewinnung, nachdem der hirntote Spender sich auf dem Operationstisch in eine Leiche verwandelt und den Herztod erlitten hat, mit entnommen, sollte er einer Gewebeentnahme nicht ausdrücklich zu Lebzeiten widersprochen haben. Es ist also auch das in der Vergangenheit immer wieder von den Akteuren verstärkte Misstrauen der Menschen, welches viele zögern lässt, sich diesem Programm durch Zustimmung in einem Organspenderausweis auszusetzen.

 

4.    Ist das Vertrauen in die Transplantationsmedizin gerechtfertigt?

Die Bevölkerung scheint zu spüren, dass in der Transplantationsmedizin nicht nur Altruismus, sondern ebenso Geschäftssinn eine Rolle spielt.

Hierfür spricht auch, dass die Auslastung der 47 Transplantationszentren dadurch gesteigert wird, dass man die Indikation zur Transplantation immer weiter fasst.

Auch alten Menschen wird eine Transplantation zunehmend angeboten. Dafür werden Organe von älteren oder kranken Spendern verwendet. Zum Beispiel war 2012 jeder dritte Organspender in Deutschland über 65 Jahre alt. „Alt für alt“, diese Entwicklung hat den uns in den Medien immer wieder vor Augen geführten Bedarf an Organen („die Warteliste“) weiter anwachsen lassen, obwohl die Sterblichkeit nach einer Transplantation nicht zuletzt als Folge der Immunsuppression in Verbindung mit den verminderten Heilungskräften bei diesen älteren Patienten entsprechend höher ist.

Macht es wirklich Sinn für Spender, Empfänger und für unsere Gesellschaft, wenn auch für alte Menschen diese risikoreiche und belastende Medizin weiter ausgebaut wird?

Sehr wenig ist bekannt, dass die Lebensqualität nach einer Transplantation in vielen Fällen durch lebenslange Immunsuppression, Abstoßungsreaktionen und oft auch durch Organversagen weiterhin stark beeinträchtigt sein kann. Ein erheblicher Teil der Patienten stirbt trotz der Transplantation bald darauf.

Hamburger Herzspezialisten haben gezeigt, dass ihre Patienten oft auch ohne Transplantation bessere Lebensqualität und ähnliche Überlebenszeiten hatten, wie vergleichbare Patienten mit einem Spenderherzen. Mit einem gespendeten Organ werden ggf. auch gesundheitliche Probleme des Spenders mit transplantiert. Das ist zunehmend der Fall, da auch die Spender im Durchschnitt immer älter geworden und jüngere Patienten mit Hirnversagen durch Fortschritte der Intensivmedizin sowie durch die Anschnall- und Helmpflicht reduziert sind.

 

5. Neue Gesetze

Nun hat es die Transplantationslobby erreicht, dass die Organgewinnung durch neue Gesetze erleichtert werden soll. Ein Gesetz, welches die Krankenhäuser verpflichtet, mögliche Spender nicht nur rechtzeitig zu melden, sondern auch noch zwingt, den Transplantationsbeauftragten auf den Intensivstationen Zugang zu allen relevanten Patientendaten zu geben und die Hirntoddiagnostik zu veranlassen, wurde gerade im Bundestag beschlossen.

Dieser fremdnützige Eingriff in das Vertrauensverhältnis zwischen Behandlern und ihren Patienten erscheint mir brutal und lässt die „Spende“ zur Pflicht werden, der man sich nur entziehen kann, wenn man ausdrücklich eine Spende abgelehnt hat. Wenn im Entnahmekrankenhaus niemand davon weiß, dann soll ohne Zustimmung die Hirntoddiagnostik veranlasst und durchgeführt werden. Die Kliniken sind dafür finanziell zu belohnen und bei Verweigerung in Zukunft an den Pranger zu stellen

Das zweite Gesetz des Herrn Spahn wurde schon angekündigt, ist aber strittig. Noch 2019 soll der Bundestag über die Einführung einer Widerspruchslösung abstimmen. Danach wäre jeder automatisch Organspender, der sich nicht ausdrücklich dagegen erklärt hat.

Ich finde, da hätte man erst einmal im Erbrecht eine solche Regelung einführen sollen. Jeder, der kein ausdrückliches Testament macht, wäre dann Spender und sein Erbe könnte die Not vieler leidender Menschen lindern. In jedem Fall sollte dann fairerweise nicht mehr von einer Organ-„Spende“ die Rede sein. Denn es würde sich um eine Pflicht handeln, der man sich nur durch ausdrücklichen Widerspruch (so wie früher der Wehrpflicht) entziehen könnte. Vertrauen und Zustimmung in der breiten Bevölkerung wird man so nicht schaffen können.

Wie fühlt man sich übrigens wohl, mit einem fremden Organ, bei dem man damit rechnen muss, dass es nicht aus eigenem Antrieb und ohne informierte Zustimmung geschenkt wurde?

 

Ich bin der Meinung, über Organspende sollte jeder gut aufgeklärt sein, um eine Entscheidung überhaupt treffen zu können. Das mit der Aufklärung wird derzeit interessengeleitet vernachlässigt. Seine Körperteile im Sterben unter intensivmedizinischer Behandlung chirurgisch entnehmen zu lassen, ist keine Selbstverständlichkeit. Es hat mit unserer Kultur und unserem Menschenbild sehr viel zu tun. Ein Mensch ist kein Ersatzteillager für andere, und Artikel 1 unseres Grundgesetzes verpflichtet den Staat, die Menschenwürde auch eines sterbenden Menschen bis zu seinem endgültigen Tod zu schützen.

 

(Zum Autor: Dr. Wolfgang Wodarg hat 1997 bei der Schaffung des deutschen Transplantationsgesetzes (TPG) als Bundestagsabgeordneter die überfraktionelle Gruppe der Abgeordneten koordiniert, die sich für eine persönliche (enge) Zustimmungslösung  und gegen die Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod des Menschen einsetzten. Er hat sich danach auch in der Enquetekommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ (1998-2005) als Sprecher für eine Stärkung der Autonomie und gegen fremdnützige Eingriffe in die Gesundheit von Menschen eingesetzt.)

 


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Diesseits des Rubikon? Politische Standortbestimmung im Streit um die rechtliche und moralische Auslegung der Menschenwürde von Wolfgang Wodarg
Diesen Aufsatz habe ich gemeinsam mit meiner sehr engagierten wissenschaftlichen Mitarbeiterin Susanne Mauersberg während meiner Arbeit als Sprecher in der Enquetekommission des Deutschen Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin" verfasst. Er erschien am 23.2.2004 bei der edition suhrkamp (ISBN-10: 3518122681) in dem von Matthias Kettner herausgegebenen Werk „Biomedizin und Menschenwürde“.
Diesseits des Rubikon? Politische Stando
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